Warum der starke Franken Schweizer Unternehmen kalt lässt

Während der Euro nachgibt, hält sich der Franken auf sehr hohem Niveau. Doch für Schweizer Unternehmen hat diese Entwicklung seinen Schrecken verloren – bis jetzt jedenfalls. 

Ludovic Chappex

Donnerstag, 15. Januar 2015, 10.30 Uhr: Die Schweizerische Nationalbank (SNB) löst mit der Ankündigung, den Mindestkurs von 1,20 Franken für einen Euro aufzugeben, eine Art Explosion an den Märkten aus. Diesen Mindestkurs hatte die SNB seit der Einführung der Gemeinschaftswährung vier Jahre zuvor immer verteidigt. Nach dem Entscheid kommt es beinahe umgehend zu einer Parität von Euro und Franken. Später dümpelt der Euro lange Wochen bei rund 1,05 Franken. Die schweizerische Wirtschaft war stark angeschlagen, ratlos und wütend. Wie sollte sie wettbewerbsfähig bleiben, fragten sich viele, wo sie doch mehr als die Hälfte der Produktion in den Euroraum ausführt.

Montag, 26. September 2022: Der Franken liegt schon seit Wochen deutlich unter der Parität mit dem Euro und hält sich schliesslich auch nicht mehr an den neuen «psychologischen» Mindestkurs von 0.95 Franken für einen Euro. Niemand reagiert darauf. Nicht einmal die schweizerischen Industrieunternehmen sind beunruhigt. Was für ein Unterschied zu der Panik, die sich einige Jahre zuvor ausgebreitet hatte. Sind die hiesigen Unternehmen so effizient geworden, dass der Wechselkurs sie nicht mehr stört? Oder hat sich das Konjunkturumfeld geändert?

Beides treffe zu, lautet die Antwort der Experten, mit denen wir gesprochen haben. Auf makroökonomischer Ebene lässt sich der Unterschied zwischen 2015 und heute in einem Wort zusammenfassen: Inflation. Denn seit Monaten leidet die Europäische Union (EU) unter einer ausser Kontrolle geratenen Inflation, die im August mehr als 10 Prozent betrug. In der Schweiz liegt sie bei nur 3,5 Prozent. Diese Differenz gleicht die Wettbewerbsnachteile eines starken Frankens aus und begünstigt schweizerische Unternehmen, die ihre Produkte in die EU exportieren.

«Wenn wir uns auf den realen Wechselkurs stützen (der die Preisindizes und ihre Entwicklung in der Schweiz und in der EU berücksichtigt, Anm. d. Red.), ist der Franken gegenüber dem Euro noch nicht stärker als 2015 nach der Aufgabe des Mindestkurses durch die SNB», unterstreicht Martin Eichler, Mitglied der Geschäftsführung des Schweizer Wirtschaftsforschungsinstituts BAK Economics. Genau betrachtet liegt der Index der SNB, der den realen Wechselkurs des Franken in der Eurozone (seit Dezember 2000 auf Monatsbasis, Basis 100 ) abbildet, derzeit bei 116, gegenüber fast 120 in den ersten sechs Monaten 2015. 

 

«Wenn wir uns auf den realen Wechselkurs stützen, ist der Franken gegenüber dem Euro noch nicht stärker als 2015 nach der Aufgabe des Mindestkurses durch die SNB»

Martin Eichler, Mitglied der Geschäftsführung von BAK Economics

 

Weiterer wesentlicher Unterschied zwischen der heutigen Situation und der von 2015: Der Euro rutschte damals unerwartet und steil ab und löste eine tiefe Krise aus. Das ist heute nicht der Fall. Das Trauma von 2015 hatte einen Vorteil: Es veranlasste die schweizerischen Unternehmen, sich möglichst wirksam vor Wechselkursschwankungen zu schützen. Dazu gehört auch die Optimierung der Fertigungskosten und die Beschleunigung der Innovation.

«Schweizerische Unternehmen sind sehr gewissenhaft geworden», so Michael Foeth, Head of Swiss Industrial Research bei Vontobel. «Sie haben sich daran gewöhnt, die Wechselkurseffekte zu bekämpfen.» Viele Unternehmen wählten zudem Dienstleister und Zulieferer aus dem Euroraum, um die Kosten zu senken. Die multinationalen Konzerne wiederum betreiben oft Fertigungsanlagen in den Ländern, in denen sie ihre Produkte vermarkten. Deshalb ist der starke Schweizer Franken kein Thema mehr, zumindest nicht im Augenblick. «Infolge des Aufschwungs nach der Pandemie ist die Auftragslage der schweizerischen Unternehmen ausgezeichnet», bemerkt Maxime Botteron, Ökonom bei Credit Suisse. «In den nächsten Monaten könnte sich die Situation allerdings verschlechtern. Es ist mit einem Rückgang der Nachfrage zu rechnen, vor allem im Euroraum.» 

 

«Schweizerische Unternehmen tun sich schwer, wenn die Wechselkurse plötzlich und stark schwanken»

Jérôme Schupp, Analyst bei Prime Partners

 

"Und Martin Eichler, der BAK-Chef-ökonom, meint: «Auch der Verzögerungseffekt darf nicht vergessen werden. Viele Unternehmen schliessen mittelfristige Verträge ab, die sie einige Zeit vor Wechselkursschwankungen schützen. Sie könnten aber in ein paar Monaten stärker darunter leiden.» Er beschreibt  das typische schweizerische Unternehmen, dem Gefahr droht, so: «Es ist in der Metallurgie tätig, verbraucht viel Energie und Rohstoffe, die es in Dollar bezahlen muss, stellt seine Produkte vor allem in der Schweiz her und exportiert sie hauptsächlich nach Europa.» Dieses Porträt entspricht jedoch eher einem KMU als einem kotierten multinationalen Konzern. Sind die meisten schweizerischen Grossunternehmen deshalb geschützt? Bis auf welches Niveau kann der Euro sinken, bevor die eidgenössische Industrie in Turbulenzen gerät? «Man stellt uns regelmässig diese Frage», lächelt Philippe Cordonier, Sprecher für die Romandie von Swissmem, dem Dachverband der Schweizer Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie. «Es ist schwierig, darauf zu antworten, weil unser Sektor stark diversifiziert ist. Jedes Unternehmen hat seine eigene Schmerzgrenze.» Michael Foeth von Vontobel zieht eine ähnliche Bilanz: «Es gibt kein Modell, mit dessen Hilfe wir sagen können, dass der Franken ab diesem oder jenem Wechselkurs zu stark wird.»

Zurzeit ist die SNB bestrebt, die Inflation zu bekämpfen. Deshalb rechnen die meisten Analysten mit einer weiteren Aufwertung des Franken gegenüber dem Euro. In einer Veröffentlichung vom 29. August rechnet Lombard Odier mit einem Euro/Franken-Wechselkurs von 0,93 in einem Zeitraum von zwölf Monaten und bestätigt damit die Prognosen anderer Banken. Der Wechselkurs von Dollar zu Franken dürfte sich gemäss demselben Bericht bei 0,95 einpendeln. Manche gehen sogar sehr viel weiter: Michel Girardin, Dozent am Geneva Finance Research Institute, schätzt, dass der Gleichgewichtswechselkurs des Frankens derzeit bei 0,83 Rappen pro Euro liegen sollte. Und zwar auf der Grundlage der Kaufkraftparität (KKP) und der Entwicklung der Differenz zwischen den kurzfristigen Realzinssätzen des Euro und des Frankens. Der SNB bleibt also ausreichend Spielraum für mehrere Zinserhöhungen, um den hohen Kurs des Frankens zu erhalten...

Die meisten Experten sind der Ansicht, dass die schweizerische Wirtschaft sich anpassen kann, sofern die Wechselkursschwankungen nicht allzu plötzlich auftreten. «Schweizerische Unternehmen tun sich schwer, wenn die Wechselkurse plötzlich und stark schwanken», bekräftigt Jérôme Schupp, Analyst bei Prime Partners. «Eine Änderung um 2 bis 4 Prozent jährlich kann abgefangen werden, aber darüber hinaus wird die Lage kompliziert. Die Unternehmen können wegen des Wettbewerbs ihre Preise nicht zu schnell erhöhen. In dieser Hinsicht verlief der Aufschwung des Frankens in den letzten Wochen etwas zu schnell.»