Dossier

Trinkwasser aus dem Meer

Meerwasserentsalzung scheint die Lösung für das Problem knapper Wasserressourcen zu sein. Die Technologie setzt sich immer mehr durch. Doch sie ist auch mit enormen Umweltbelastungen verbunden.

Von Bertrand Beauté

Der «blaue Planet» trägt seinen Namen zu Recht. Immerhin sind drei Viertel der Erdoberfläche mit Wasser bedeckt, das dem Planeten seine charakteristische Farbe verleiht. Doch 97 Prozent dieses Wassers sind salzhaltig, einfach ungeniessbar. Und die restlichen 3 Prozent an Süsswasservorräten sind sehr ungleichmässig auf der Erde verteilt und liegen meist in Form von Eis vor. Folglich leben mehr als vier Milliarden Menschen in Regionen, in denen mindestens einmal im Jahr Wassermangel herrscht. Daher ist die Idee verlockend, die immensen Salzwasserreserven in Trinkwasser umzuwandeln.

«Das Wasser der Ozeane ist eine unerschöpfliche Ressource», unterstreicht Miguel Angel Sanz, Direktor für strategische Entwicklung bei Suez und ehemaliger Präsident der International Desalination Association (IDA). «Die Entsalzung ist für Regionen mit Wassermangel eine echte Lösung des Problems.» Diese Idee ist keineswegs neu. In der Antike berichtete der griechische Philosoph Aristoteles von den ersten Entsalzungsversuchen griechischer Fischer. Sie erhitzten Salzwasser auf mehr als 100 Grad Celsius. Der Dampf, der dabei entsteht, lässt sich auffangen. Und das nach der Kondensation entstandene Wasser kann man dann trinken. Diese als «Destillation» bezeichnete Technik kam auch zwei Jahrtausende später noch zur Anwendung, als man in den 1960er-Jahren die ersten Entsalzungsanlagen baute. Sie hat jedoch einen ganz grossen Nachteil: Diese Technik ist extrem energieaufwendig. Darum war die Entsalzung lange Zeit ein Nischenmarkt, der den Golfstaaten vorbehalten war, wo die Ölquellen sprudelten.

 

Es gibt inzwischen weltweit gut 20’000 Installationen, die mehr als 300 Millionen Menschen mit Trinkwasser versorgen

 

Mit dem Aufkommen der Umkehrosmose in den frühen 1970er-Jahren änderte sich das allmählich. Bei dieser Technik wird die Flüssigkeit durch halbdurchlässige Membranen, die einem Gewebe mit immer feiner werdenden Poren ähneln, geführt, um Wasser und Salz zu trennen. «Das Entsalzungsgeschäft war wegen seines Energieverbrauchs und der hohen Kosten lange Zeit eingeschränkt. Aber mit dem Aufkommen immer besserer Membranen für die Umkehrosmose konnte sich diese Technologie stärker verbreiten», erklärt Miguel Angel Sanz. «Der für die Entsalzung benötigte Energieverbrauch ist innerhalb von 40 Jahren auf ein Drittel gesunken.» Das wirkte sich auf die Kosten aus. Der Preis für entsalztes Wasser ist von zwei Franken pro Kubikmeter vor 20 Jahren auf heute einen Franken gesunken, wobei er je nach Energiequelle von Region zu Region sehr unterschiedlich ausfällt. Zum Vergleich: In der Schweiz liegt der Trinkwasserpreis, der zwischen den Gemeinden variiert, bei durchschnittlich 1.60 Franken pro Kubikmeter. Eine verbesserte Energieeffizienz bei gleichzeitig sinkenden Preisen erklärt den zunehmenden Erfolg der Entsalzung. Die Branche befindet sich in einem regelrechten Boom. Zwischen 2010 und 2020 stieg die Menge an entsalztem Wasser auf der Erde um fast 100 Prozent, von 60 Millionen Kubikmeter pro Tag auf 115 Millionen. Insgesamt gibt es inzwischen weltweit gut 20’000 Installationen, die mehr als 300 Millionen Menschen mit Trinkwasser versorgen. «Nicht alle dieser Anlagen pumpen Wasser aus dem Meer», betont Miguel Angel Sanz. «40 Prozent der Entsalzungsanlagen bereiten Brackwasser mit einem deutlich geringeren Salzgehalt als Meerwasser oder Abwasser auf.» Der Markt wächst noch weiter. Wie im jüngsten UN-Wasserbericht von März 2021 nachzulesen ist, wird die Entsalzung «in den nächsten 15 Jahren für Küstengemeinden auf der ganzen Welt zu einer Lösung für Dürreperioden werden».

Der Markt, der sich heute auf knapp 17,7 Mrd. Dollar pro Jahr beläuft, soll bis 2027 nach Prognosen von Research & Markets auf 32,1 Mrd. Dollar anwachsen. Mehrere Unternehmen wie Veolia und Suez (Frankreich), Abengoa (Spanien), IDE Technologies (Israel) und Xylem (USA) teilen sich dieses lukrative Geschäft. «Entsalzung hat sich zu einem Dienstleistungsmarkt entwickelt», erklärt Miguel Angel Sanz. «Der Bau neuer Anlagen generiert jedes Jahr vier bis fünf Mrd. Dollar Umsatz, Betrieb und Wartung bringen zehn Mrd. Dollar ein pro Jahr.»

In Israel beispielsweise werden inzwischen fast 70 Prozent des verbrauchten Trinkwassers auf diese Weise gewonnen. Das gelobte Land für Branchenunternehmen: «Aufgrund des Drucks, der bei der Umkehrosmose ausgeübt wird, und wegen der Korrosion verschleissen die Membranen schnell und müssen regelmässig ausgetauscht werden», erklärt Xavier Regnard, Analyst bei der Geschäftsbank Bryan, Garnier & Co. «Dies ist eine Einnahmequelle für die Unternehmen, die diese Anlagen verkaufen und betreiben. Ähnlich wie bei den Nespresso-Kapseln sind die Kunden gebunden, sobald sie die Maschine gekauft haben.»

BARCELONA UND LONDON PRESCHEN VOR

Die Hälfte der weltweiten Kapazität befindet sich im Nahen Osten und in Nordafrika», erklärt Miguel Angel Sanz. «Aber in Asien steigt die Nachfrage jährlich um stolze 30 Prozent. In Amerika liegt das Wachstum bei 15 Prozent und in Europa bei 5 Prozent.» Denn die Entsalzung findet nicht mehr nur in Wüstenregionen und abgelegenen Gegenden statt. Seit 2009 gibt es beispielsweise in Barcelona eine Anlage, die 200’000 Kubikmeter Trinkwasser pro Tag produzieren kann. 2010 wurde in London eine Anlage eingeweiht. Und die US-Bundesstaaten Florida und Kalifornien investieren derzeit Hunderte von Millionen Dollar in den Bau neuer Entsalzungsanlagen.

«Der Standort Barcelona war als Reserve für den Krisenfall gedacht », erklärt Miguel Angel Sanz, der bei Suez am Verkauf der Anlage beteiligt war. «Bei normalen Witterungsbedingungen ist sie nicht in Betrieb. Aber in Trockenperioden müssen die Behörden nur auf einen Knopf drücken, damit genug Wasser produziert wird, um die Versorgung von 1,3 Millionen Katalanen sicherzustellen. Darum haben die Einwohner der Anlage den Namen ‹sechster Staudamm› gegeben.»

Dass die Katalanen ihre Anlage nur sparsam nutzen, liegt daran, dass die Umweltkosten für entsalztes Wasser im Vergleich zu den Kosten für Entnahmen aus Flüssen und Grundwasser immer noch sehr hoch sind. «Die Entsalzungstechnologien sind besser geworden, aber sie sind immer noch sehr energieintensiv», betont der Analyse Xavier Regnard. «Im derzeitigen umweltpolitischen Kontext bin ich mir nicht sicher, ob die Entsalzung der richtige Weg ist. Ich halte es für sinnvoller, die Versorgungsnetze zu verbessern und den Wasserverbrauch zu reduzieren.» In Australien, wo Entsalzungsanlagen in grossem Umfang genutzt werden, tragen die Behörden dieser Problematik zunehmend Rechnung: Sie fordern die Betreiber auf, bei allen grösseren Projekten im Land erneuerbare Energien einzusetzen. So wird beispielsweise der Energiebedarf der Umkehrosmoseanlage in Perth zu 100 Prozent von einem Windpark gedeckt. Das Gleiche gilt für Marokko: In Agadir wird derzeit die grösste Entsalzungsanlage Afrikas gebaut, die teilweise mit Windturbinen betrieben werden soll.

 

«Die Entsalzungstechnologien sind besser geworden, aber sie sind immer noch sehr energieintensiv»

Xavier Regnard, Analyst bei Bryan, Garnier & Co.

 

Gleichzeitig versuchen die Wissenschaftler, die Energieeffizienz von Entsalzungsanlagen zu verbessern. Ein internationales Team liess sich beispielsweise von Aquaporinen – Poren auf der Oberfläche menschlicher Zellen, die nur Wasser durchlassen – inspirieren. Man fand einen Weg, um die für die Entsalzung benötigte Energie um 12 Prozent zu reduzieren, wie in einem Beitrag im Wissenschaftsjournal «Nature Nanotechnology» von November 2020 nachzulesen ist.

«Wir arbeiten mit mehreren grossen Unternehmen zusammen, damit sie unsere Membranen in ihren Anlagen einsetzen», erklärt Mihail Barboiu. Er ist Chemiker am Institut Européen des Membranes in Montpellier und Koordinator für diese Kooperationen. Doch die Industrialisierung brauche Zeit, so Barboiu. «In den nächsten zehn Jahren wird der Energieverbrauch dank Innovationen wie neuen, effizienteren Membranen um weitere 10 bis 15 Prozent sinken», schätzt Miguel Angel Sanz. «Aber den grössten positiven Einfluss hat die Grösse der Anlagen: Je grösser, desto energieeffizienter sind sie auch, weil es Skaleneffekte gibt.»

Doch die Energieversorgung ist nicht die einzige Schwierigkeit bei der Entsalzung. In einer Studie, die 2019 in der Fachzeitschrift «Science of the Total Environment» veröffentlicht wurde, zeigen sich die Forscher besorgt über den massiven Ausstoss von Sole, einer Substanz mit einem hohen Salz- und Chemikaliengehalt, die bei der Entsalzung entsteht. Um einen Liter Trinkwasser zu gewinnen, muss ein Liter Sole ins Meer eingeleitet werden. Dies führt nach Ansicht der Autoren zu einer zunehmenden Versalzung des Wassers und der marinen Ökosysteme, die das Leben für die dort lebende Flora und Fauna erschwert, wenn nicht gar unmöglich macht.

Miguel Angel Sanz weist diese Sorge zurück: «In Ländern, die die Entsalzung schon lange nutzen, haben wir keine Auswirkungen gesehen.» Auch die australische Regierung kam nach vierjährigen Studien zu dem Schluss, dass die Entsalzung keine signifikanten Auswirkungen auf die Meeresumwelt hat. Diese Schlussfolgerung ist allerdings in der Wissenschafts- Community immer noch umstritten, da mehrere andere Studien einen Rückgang bestimmter Arten an den Orten nachgewiesen haben, an denen Sole eingeleitet wird.

Derzeit nutzen 174 Länder Entsalzungsverfahren, um den Wasserbedarf ihrer Bürger zu decken. Doch diese Technologie bleibt noch immer ein Privileg reicher Länder: Nicht einmal 0,1 Prozent der Anlagen befinden sich in Ländern mit einem niedrigem Pro-Kopf-Einkommen. Obwohl die afrikanischen Länder südlich der Sahara keineswegs von Wasserknappheit verschont sind, bleiben sie bei dieser Entwicklung in der Regel aussen vor. Ghana war 2015 das erste Land in Westafrika, das diesen Zustand beendete: Die Regierung in Accra nahm damals eine Anlage mit einer Leistung von täglich 60’000 Kubikmetern Wasser in Betrieb, die die spanische Firma Abengoa gebaut hatte. Und in Senegal baut die Firma Suez derzeit in Dakar eine neue Anlage mit einer Kapazität von 50’000 Kubikmetern am Tag, die noch in diesem Jahr eröffnet werden soll.