Interview

«Technologie ist das A und O im Künstlermanagement»

Das junge Label «Believe» sorgt für Unruhe in der Musikindustrie und macht den traditionellen Plattenproduzenten Konkurrenz: Denn Believe kennt sich mit Algorithmen aus.

Von Bertrand Beauté

Es gibt Gerüchte, dass Sony 2017 immerhin 400 Mio. Euro auf den Tisch gelegt habe, um das Start-up Believe zu kaufen. Doch der Deal kam nicht zustande. Damals schien es ziemlich gewagt zu sein, ein solches Angebot auszuschlagen. Vier Jahre später zweifelt jedoch niemand mehr daran, dass die Entscheidung richtig war. Im Juni 2021 sammelte Believe beim Börsengang in Paris 300 Mio. Euro ein – die Bewertung des Unternehmens stieg daraufhin auf fast zwei Mrd. Euro. Denn das französische Einhorn hat sich in der Zwischenzeit rasant entwickelt, getragen vom gigantischen Streaming-Boom. Innerhalb von zwei Jahren hat sich der Umsatz nahezu verdoppelt, von 238 Mio. Euro im Jahr 2018 auf 441,4 Mio. in 2020. Ein ganz schön dicker Brocken, der sich da den Big Playern der Branche in den Weg legt.

Seit dem Gründungsjahr 2005 hat sich Believe auf die digitale Verbreitung von Musik spezialisiert. Damals versuchten die traditionellen Akteure wie Universal, Sony und Warner noch, die CD zu retten. Weil man sich bei Believe mit den Algorithmen der Streaming-Plattformen wie Spotify, Apple Music oder Tencent Music auskennt, konnte das Unternehmen gut 850’000 Künstlerinnen und Künstler für sich gewinnen, darunter Stars wie die isländische Sängerin Björk oder die deutsche Band Milky Chance. Denis Ladegaillerie, CEO und Mitgründer von Believe, erklärt diesen Erfolg im Interview mit «Swissquote Magazine».

 

Die weltweiten Musikeinnahmen haben 2020 fast schon Rekordniveau. Halten Sie es für möglich, dass sie noch weiter steigen und den Spitzenwert vom Anfang der 2000er-Jahre, aus der Zeit vor der Krise der Musikindustrie, übertreffen?

Die Umsätze der Musikindustrie werden noch so stark steigen, dass uns der Spitzenwert der 2000er-Jahre in zehn Jahren lediglich wie ein blasser Schatten vorkommt. Und auch 2030 werden wir den Zenit noch nicht erreicht haben. Und zwar liegt das daran, dass mit der Zunahme an digitalen Medien auch immer mehr Menschen bereit sind, Geld für Musik auszugeben. In den 2000er-Jahren haben sich CD-, Platten- und Kassettenverkäufe auf drei Märkte konzentriert: die USA, Europa und Japan. Der Rest der Welt spielte für die Monetarisierung keine Rolle, weil dort bereits Raubkopien der Tonträger kursierten. Mit dem Streaming werden auch Asien, Südamerika und Afrika monetarisierbar, sodass die Einnahmen der Musikindustrie steigen werden.

Derzeit haben 45 Prozent der Menschen in Skandinavien ein kostenpflichtiges Abo bei einem Streamingdienst. In den USA, im Vereinigten Königreich und in Australien liegt der Anteil bei 30 Prozent, im Rest der Europäischen Union bei 15 Prozent, in Asien aber lediglich bei 2 bis 5 Prozent und in Afrika und dem Nahen Osten bei weniger als 1 Prozent. Sowohl in den westlichen Ländern als auch in den Entwicklungsländern haben die Streaming-Umsätze also noch ein gigantisches Wachstumspotenzial.

Und dieses Wachstumspotenzial erklärt auch, warum sich mehrere Labels (Warner, Universal und Believe) in den letzten zwei Jahren entschieden haben, an die Börse zu gehen...

Ich kann nicht für die anderen sprechen. Aber bei Believe war es angesichts der Perspektiven, die sich der Branche bieten, definitiv der richtige Moment. Auf dem Höhepunkt der 2000er-Jahre lagen pro Jahr etwa zwei CDs im Warenkorb der Musikkonsumenten. Heute, in der digitalen Welt, liegt der Warenkorb mit den Abos bei 65 Dollar pro Jahr, das sind ungefähr fünf CDs. Die durchschnittlichen Ausgaben steigen. Dazu kommt noch, dass auch die Zahl der Abonnenten auf den Streaming-Plattformen weiterhin wachsen wird. Parallel werden wir ausserdem Zeuge einer explosionshaften Zunahme der kommerziellen Nutzung von Musik. Früher brauchte man Kino und Fernsehen, um ein Werk bekannt zu machen. Heute kommen Plattformen wie TikTok, Instagram oder YouTube dazu. Das Wachstum der Musikindustrie ist also ein sehr starker struktureller Trend und damit interessant für Investoren.

Laut Weltverband der Phonoindustrie (IFPI) stammten im letzten Jahr 62 Prozent der Einnahmen der Musikbranche aus dem Streaming, zehn Jahre zuvor lag dieser Wert noch bei unter 1 Prozent. Welche Folgen hat dieser Siegeszug der Digitalisierung?

Der grösste Vorteil der digitalen Medien ist, dass sie mehr Diversität in die Musiklandschaft bringen. In den 2000er-Jahren war der Musikmarkt sehr linear. Um einen Künstler bekannt zu machen, mussten die Labels erst eine CD produzieren und dann Werbung im Radio und im Fernsehen machen. Bei einem von zehn Versuchen klappte es mit dem Durchbruch. Um die Kosten für die Misserfolge sowie die Investitionen für Herstellung und Distribution wieder einzuspielen, mussten die grossen Labels sehr grosse Volumina absetzen. Daher konzentrierten sie sich auf «Top-Künstler». In jedem Land gab es etwa 200, mit denen die Plattenfirmen 70 bis 80 Prozent ihrer Umsätze erwirtschafteten. In der digitalen Welt sind die Distributionskosten sehr viel geringer, damit sinkt die Eintrittsschwelle, was wiederum für mehr Diversität sorgt. Im Grunde haben alle Musiker Zugang zum Markt, weil man einen Song nur auf einer Plattform veröffentlichen muss, um das Publikum zu erreichen. Dadurch sind die Künstler nicht länger vom Gutdünken der Labels oder von künstlerischen Leitern abhängig, die nach subjektiven Kriterien entscheiden, wer Musik machen darf und wer nicht. Die Branche ist viel gesünder als vorher, und das hat zu einer Entzerrung der Wertschöpfung geführt. Meiner Ansicht nach werden die 200 erfolgreichsten Künstler bald nur noch 20 bis 30 Prozent der Umsätze in der Musikindustrie ausmachen. 50 Prozent der Einnahmen erwirtschaftet dann das künstlerische Mittelfeld, von der Nummer 200 bis 10’000 im Land. Die restlichen 20 bis 30 Prozent werden Hobbykünstler (ab dem 10’000. Platz) unter sich aufteilen.

Wenn jede und jeder Musik online stellen kann, besteht dann nicht die Gefahr, dass die Labels überflüssig werden?

Nein, man darf die Bedeutung der Labels bei der Betreuung der Musiker nicht unterschätzen. Allerdings ist die Branche im Wandel. Wichtig sind für ein Label nicht mehr die Partnerschaften mit TV- und Radiosendern, sondern die Fähigkeit, Algorithmen von Spotify, TikTok und anderen Plattformen zu nutzen. Ein Beispiel: Wenn Sie einen Song auf YouTube veröffentlichen, verliert er sich in der Masse. Niemand oder fast niemand wird ihn sehen. Hier kommen wir ins Spiel. Mit unserem Know-how in der Datenanalyse und im digitalen Marketing können wir die Sichtbarkeit der Künstler erhöhen. Auf YouTube lässt sich die Monetarisierung eines Songs mit unseren Lösungen innerhalb von drei Monaten um 150 Prozent steigern.

Auf einer Plattform wie Spotify ist es eben der Algorithmus, der den Erfolg eines Songs ausmacht. Denn er gibt den Abonnenten persönliche Empfehlungen, und drei Viertel aller abgespielten Songs gehen schliesslich auf diese Empfehlungen zurück. Der Schlüssel zum Erfolg besteht für diese Labels also darin, zu verstehen, wie der Algorithmus funktioniert, um die Titel ihrer Künstler in die Hörer-Empfehlungen hineinzubekommen. Technologie ist heute das A und O im Künstlermanagement.

Ist das die Stärke von Believe gegenüber den Branchenriesen?

Früher haben die traditionellen Plattenfirmen nur sehr wenige Künstler sehr intensiv betreut – die berühmten Top 200 pro Land. Aber eine solche sehr kostspielige Dienstleistung ist nicht auf die Künstler der Mittelklasse zugeschnitten. Unser Vorteil ist, dass wir technologische Lösungen entwickelt haben, mit denen wir nicht nur einige Dutzend Künstler, sondern Hunderttausende mit individuellen Dienstleistungen zur Monetarisierung versorgen können. Für wenig bekannte Künstler bieten wir etwa den vollautomatisierten Service TuneCore an, mit dem sie für zehn Euro pro Jahr und pro Titel auf mehr als 150 Streaming-Plattformen weltweit vertreten sind und zugleich 100 Prozent der Tantiemen behalten. Für bekanntere Künstler haben wir noch individuellere Leistungen. Das Besondere an Believe ist, dass wir unser Angebot von Anfang an gut durchdacht und nach Segmenten aufgeteilt haben.

Seit Universal 2019 das US-Unternehmen Ingrooves übernommen hat, bietet die Plattenfirma ähnliche Dienste an wie Sie. Genau wie Warner und Sony übrigens...

Ja, wir haben Konkurrenz, und das ist auch gut so. In den 2000er-Jahren war der Musikmarkt ein Oligopol mit sechs grossen Akteuren: Universal, Virgin, Emi, Warner, Sony und Polydor. Dann hat die Krise der Plattenindustrie zu einer Konsolidierung geführt, und heute sind 70 Prozent des Weltmarkts in der Hand von drei Akteuren (Universal, Sony und Warner). Weil die Branche wächst, wird es meiner Meinung nach in den nächsten Jahren wieder sechs bis acht Hauptakteure geben. Unser Ziel ist es, einer von diesen zu sein.

Aber welche Vorteile haben Sie gegenüber der Konkurrenz?

Wir sind am weitesten in der Digitalisierung, die anderen Akteure müssen uns folgen. Im ersten Halbjahr 2021 ist unser Umsatz in der branchenentscheidenden Tonträgersparte zwei Mal so schnell gestiegen wie der von Universal. Im Juli 2020 haben wir einen neuen Deal mit TikTok unterzeichnet, neun Monate vor den grossen Labels. Auf YouTube können Künstler mit unseren Tools zwei bis drei Mal mehr Geld verdienen als mit denen traditioneller Plattenfirmen. Denn wir sind das einzige Unternehmen, das im Rahmen einer ökonometrischen Studie eine Kooperation mit YouTube eingegangen ist. Im Juli 2021 haben wir auch eine Vereinbarung mit Spotify unterzeichnet, um den neuen Discovery Mode auszuprobieren, mit dem Künstler auf der Plattform sichtbarer werden können. Durch diese Kooperationen lernen wir die Algorithmen besser verstehen und wissen, wann und wie man einen Titel veröffentlichen muss, damit er sein Publikum findet.

Am besten kennen natürlich die Plattformen selbst diese Algorithmen. Fürchten Sie nicht, dass die Unternehmen auch noch die digitale Musikdistribution erobern wollen, wie Spotify, das sich am amerikanischen Online-Musikvertrieb Distrokid beteiligt hat?

Spotify hat einen Schritt in diese Richtung gemacht, bevor man dann wieder zurückgerudert ist. Ich glaube nicht, dass man Plattform und Distributor zugleich sein kann. Das würde zu einem Interessenkonflikt führen. Als Distributor ist es unsere Aufgabe, den Künstlern zu helfen, möglichst viele Zuhörer zu erreichen und hohe Einnahmen zu erzielen. Die Plattformen dagegen wollen ihren Kunden ein optimales Nutzererlebnis bieten. Diejenigen, die im Sinne der Konsumenten handeln, und die, welche die Interessen der Künstler vertreten, verfolgen diametral entgegengesetzte Ziele. So verhandelt Believe alle zwei Jahre mit Spotify. Als Distributor setzen wir uns für unsere Künstler ein, damit Spotify ihnen so viel wie möglich bezahlt, während Spotify ihnen natürlich so wenig wie möglich geben will.

Aber gerade in puncto Umsatzverteilung beklagen sich viele Künstler, sie würden mit dem Streaming nicht genug verdienen. Halten Sie das für gerechtfertigt?

Die alten Künstler beklagen sich, und das ist auch ganz natürlich. Nehmen wir ein Beispiel: In der Dekade 2010 bis 2020 waren es zwei Künstler, der Rocker Johnny Hallyday und der Rapper Jul, die in Frankreich die meisten Platten verkauft haben – jeweils fünf Millionen Alben. Johnny Hallyday hat 98 Prozent seiner Umsätze mit CDs im Supermarkt gemacht. Jul dagegen erzielte 80 Prozent seiner Einnahmen digital. Wenn Johnny (2017 verstorben, Anm. d. Red.) auf seine Streaming-Einnahmen geblickt hat, musste er natürlich das Gefühl haben, dass es ihm im Vergleich zur CD nichts einbringt. Auf der anderen Seite erwirtschaftet Jul per Streaming extrem hohe Summen, die dem nahekommen, was Top-Künstler früher mit physischen Tonträgern erreicht haben. Die junge Generation erzielt sehr gute Einnahmen mit dem Streaming. Aber es stimmt, dass das für die älteren Künstler nicht so oft der Fall ist. Wenn man auf die Zahlen schaut, erhält die Plattenfirma von einer CD für zehn Euro etwa sechs Euro. Davon fliessen wiederum 25 Prozent, also 1,50 Euro, an den Künstler. Bei einem digitalen Abonnement von zehn Euro gehen sechs bis sieben Euro an die Labels und davon 40 bis 60 Prozent an die Künstler. Die Aufteilung unter den Akteuren bleibt also mehr oder weniger gleich.

Auf welche Art von Künstlern setzt Believe?

Wir suchen nicht den nächsten Ed Sheeran. Wir setzen auf lokale Künstler in der ganzen Welt. In den USA hört man zu 97 Prozent US-Songs, in China zu 85 Prozent chinesische Musik. In Russland liegt dieser Anteil bei 80 Prozent, in Frankreich wiederum bei 70 Prozent. Wir waren die ersten, die in die schnell wachsenden Märkte der Schwellenländer wie Indien und Russland vorgestossen sind, wo wir heute führend sind. Zu unseren meistgestreamten «Top-Künstlern» zählen derzeit die Band Scriptonite in Russland, die Schweizer Rapperin Loredana in Deutschland, Jul in Frankreich oder auch Ultimo in Italien.

 


 

Ein Anwalt, der weiss, wo die Musik spielt

Dass Denis Ladegaillerie einmal in die Welt der Musik eintreten würde, war nicht vorherzusehen. Der 1969 in Limoges geborene Sohn eines Managers aus der Erdölindustrie und einer Berufsberaterin studiert Jura in Rouen und Management in Paris. Auf der anderen Seite des Atlantiks erwirbt er 1997 an der Duke University einen Masterabschluss in Rechtswissenschaften und startet seine Karriere als Wirtschaftsanwalt in New York. Doch das Ende des Jahrtausends ist eine aufregende Zeit: Statt brav in der Kanzlei zu hocken, folgt der junge Anwalt lieber dem Lockruf der New Economy. Im Jahr 2000 fängt er bei der kalifornischen Firma MP3.com an, dem Vorgänger von MySpace und SoundCloud, der gerade vom französischen Unternehmen Vivendi aufgekauft wurde. Er entdeckt die Musikindustrie für sich und das unglaubliche Potenzial des Webs. Aber die Internetblase platzt. Vorbei ist es mit dem amerikanischen Traum.

Denis Ladegaillerie kehrt nach Frankreich zurück und will Unternehmer werden. 2005 gründet er mit Arnaud Chiaramonti den Online-Musikvertrieb Believe. Arnaud Chiaramonti hatte vorher bei Sony Music gearbeitet und kennt die Musik von der Produktionsseite her. Der Dritte im Bunde ist Nicolas Laclias. Ein mutiges Unterfangen: Im Jahr 2005 machen digitale Medien weniger als 5 Prozent der Umsätze in der Musikindustrie aus. Aber Denis Ladegaillerie meistert die Herausforderung mit Bravour: 15 Jahre nach der Gründung liegt die Börsenkapitalisierung von Believe bei fast zwei Mrd. Euro.

 


 

  • Gründung: 2005
  • Hauptsitz: Paris (FR)
  • Umsatz: EUR 441 MIO. (2020)
  • Beschäftigte: 1'500
  • Stock Exchange:

Der Anfang war mühsam. Nach dem Börsengang in Paris im Juni dieses Jahres verlor der Titel des Unternehmens Believe am ersten Börsentag fast 18 Prozent. Bis heute schwankt er leicht unterhalb des Ausgabepreises. Für die Analysten ist das allerdings kein Grund zur Beunruhigung, die meisten empfehlen den Kauf des Titels. Auch Denis Ladegaillerie, der CEO von Believe, sieht das ähnlich: «Ich bin extrem zuversichtlich. Wir müssen den Investoren nur besser erklären, was wir machen und was wir für eine Technologie nutzen.» Hierbei kann sich das Unternehmen auf sein bemerkenswertes Wachstum stützen.

In den ersten sechs Monaten des Jahres 2021 sind die Einnahmen von Believe um 33 Prozent auf 260 Mio. Euro gestiegen. Das Unternehmen betreut rund 850’000 Künstler aus mehr als 50 Ländern. Darunter sind Schweizer Musiker wie Loredana, Andreas Vollenweider, Kadebostany, Klischée, LCone oder auch Loco Escrito. Im Jahr 2020 kamen die Künstler von Believe auf mehr als 100 Milliarden Streams auf Spotify und 375 Milliarden Abrufe auf YouTube.