Dossier

«Es gibt für alle Krankheiten eine Lösung mit MRNA»

Die Schweizer Behörden haben zwei mRNA-Impfstoffe gegen Covid-19 zugelassen. Steve Pascolo, Forscher am Universitätsspital Zürich, Vorreiter in diesem Bereich und vielseitiger Unternehmer, erklärt das Potenzial dieser neuartigen Therapeutika.

Von Bertrand Beauté

Steve Pascolo kennt sich mit Boten-Ribonukleinsäure sehr gut aus. Schon lange Zeit vor 2020 und der Pandemie, als dieses Molekül der Star aller TV-Sendungen wurde, befasste der Forscher sich am Universitätsspital Zürich mit den möglichen therapeutischen Anwendungen der Boten-Ribonukleinsäuren (mRNA). Für «Swissquote Magazine » blickt er zurück: In den letzten 20 Jahren konnten Wissenschaftler aus einem bis dahin vernachlässigten Molekül einen Impfstoff machen. Möglicherweise der Anfang einer Revolution in der Medizin.

Die ersten beiden Vakzine, die gegen SARS-CoV-2 zugelassen wurden, sind mRNA-Impfstoffe. Überrascht Sie das?

Nein. Die Technologie gibt es schon lange. Aber die Coronakrise hat alles beschleunigt. Sie führte zu einer weltweiten Nachfrage und setzte Gelder für Forschungsprojekte frei, die das Potenzial der mRNA bestätigten. Deshalb sind die wenigen Forscher, die sich seit geraumer Zeit mit dem Thema befassen, nicht überrascht. Denn wir behaupten schon seit 20 Jahren, diese Technologie würde es angesichts einer Pandemie ermöglichen, in sehr kurzer Zeit einen Impfstoff zu entwickeln. Dass die beiden zugelassenen Vakzine (von BioNTech und Moderna) auf mRNA beruhen, ist kein Zufall. Weil diese Technologie einfach die beste ist.

Warum hat es so lang gedauert, bis sie sich durchsetzen konnte?

1998, am Anfang meiner Forschungsarbeiten, interessierte sich absolut niemand für mRNA. Niemand glaubte daran! Wir erhielten keine Gelder, und ohne Finanzierung bleibt die Forschung stehen. Heute ändern alle ihre Meinung und halten die neue Technologie für grossartig. Aber sie ist nicht neu, niemand hat sie plötzlich aus dem Ärmel gezaubert. Wir fristen seit 20 Jahren ein Schattendasein.

Wie erklären Sie sich dieses Desinteresse in der Welt der Wissenschaft?

Im Gegensatz zur Desoxyribonukleinsäure (DNA) wird mRNA im Körper schnell abgebaut. Deshalb wurde die mRNA Opfer eines Vorurteils: Denn die meisten Forscher waren lange Zeit der Meinung, das Molekül sei zu anfällig und würde vom Körper zerstört, bevor es einen therapeutischen oder immunologischen Effekt haben könne. Deshalb beschäftigten sie sich lieber mit den Möglichkeiten der DNA. Ich hielt den schnellen Abbau der mRNA schon immer für einen Vorteil. Ich finde sie sicherer, weil sie biologisch abbaubar sind. Diese Eigenschaft reduziert eventuell eintretende Komplikationen. In den derzeit angebotenen Impfstoffen mussten die mRNA jedoch in schützende Nanopartikel aus Fett gehüllt werden, um sie bis in die Zellen transportieren zu können.

Rechnen Sie mit weiteren mRNA-Impfstoffen?

Wahrscheinlich werden manche alten prophylaktischen Impfstoffe durch mRNA-Vakzine ersetzt, die noch sicherer und einfacher herzustellen sind. Neue Produkte dürften entwickelt werden, um Viren zu bekämpfen, für die es noch keine Lösung gibt, etwa das Zikavirus. Hier laufen übrigens bereits klinische Studien mit mRNA-Impfstoffen.

Kann man mit mRNA auch anderen Krankheiten vorbeugen?

Theoretisch gibt es für alle Krankheiten eine Lösung mit mRNA. Die Möglichkeiten dieser Technologie scheinen unbegrenzt zu sein. Bei genetischen Erkrankungen, etwa Mukoviszidose oder Duchenne-Muskeldystrophie, können mRNA eingesetzt werden, um therapeutische Proteine herzustellen. Auch Anwendungen gegen Morbus Alzheimer oder Parkinson werden erwogen. Die deutsche Firma Ethris entwickelt beispielsweise einen mRNA-Nasenspray, der die Lungenfunktion der Patienten mit Erkrankungen der Atemwege wiederherstellen soll. Und Moderna befasst sich mit Herzerkrankungen. Eine Injektion von mRNA ins Herz soll künftig die Patienten befähigen, Proteine herzustellen und auf diese Weise Blutgefässe zu reparieren. Natürlich setzt man vor allem in der Onkologie grosse Hoffnungen auf mRNA, mit denen personalisierte Impfstoffe gegen Krebs entwickelt werden sollen.

Wie funktionieren diese Vakzine?

Man entnimmt dem Tumor Gewebe und sequenziert dessen Genom. Dann wird mRNA hergestellt, die den Bauplan für die identifizierten Mutationen enthält. So entsteht ein Impfstoff, der auf den Patienten zugeschnitten ist und eine Immunantwort auf den Tumor auslöst. Das Ziel ist sowohl therapeutisch (Rückgang des Tumors) als auch prophylaktisch (Vermeidung von Rückfällen nach Operationen). Im Rahmen des EU-Projekts MERIT, an dem ich mit BioNTech mitwirke, finden klinische Studien mit Brustkrebspatientinnen und -patienten statt.

Bislang waren Antikrebsimpfstoffe nicht sehr wirksam…

Krebszellen und auch das AIDS-Virus sind aufgrund der vielen Mutationen fähig, zu entkommen, sich zu verstecken. Ein Impfstoff gegen ein Tumorprotein genügt also nicht. Wir brauchen breiter gestreute Immunantworten. In der Onkologie visieren die mRNA-Impfstoffe nicht ein einziges Protein, wie beim Coronavirus, sondern fünf bis 15 Proteine oder sogar noch mehr. Produkte dieser Art sollten bis 2023 zugelassen werden.

Wenn eine neuartige Technologie den Durchbruch schafft, spricht man oft von Revolution. Einst hat auch die Gentherapie grosse Begeisterung ausgelöst...

Bei der Gentherapie sprachen alle von einer Revolution, obwohl die Wirksamkeit der Technologie niemals unter Beweis gestellt worden war. Bei der mRNA konnten wir die Wirksamkeit gegen das Coronavirus beweisen. Die Revolution hat schon stattgefunden, bevor man davon sprach.

Welche Unternehmen sind am besten aufgestellt, um von dieser Revolution zu profitieren?

CureVac, BioNTech und Moderna leisten alle drei gute Arbeit. Dennoch glaube ich, dass die Firma BioNTech, mit der ich arbeite, einen klaren Vorteil besitzt, weil ihr Molekül-Portfolio, das sie entwickelt, diversifizierter ist. CureVac ist der Vorreiter, das Unternehmen gibt es schon seit dem Jahr 2000. Seit der Gründung konzentriert man sich dort auf mRNA-Impfstoffe. Moderna wiederum startete 2010, befasste sich ursprünglich mit Gentherapie auf der Basis von mRNA und wandte sich erst 2014 dem Thema Impfstoffe zu. Und BioNTech wurde 2008 gegründet und verfolgt einen waagrechten Ansatz, der sich auf Krebsbehandlungen im Allgemeinen stützt. Neben der mRNA-Technologie beherrscht die Firma weitere Methoden, etwa Zell- und Immuntherapie.

 


 

VORREITER DER MRNA

Nach seiner Promotion am Institut Pasteur in Paris ging Steve Pascolo 1998 an die Universität Tübingen. Er nahm mit einigen Kollegen Fremdkapital auf und gründete 2000 die deutsche Biotech-Firma CureVac. Dort war er als Chief Scientific Officer (CSO) tätig. Von 2003 bis 2006 führten CureVac und das Universitätsklinikum Tübingen die ersten klinischen Studien mit Krebsimpfungen auf der Grundlage von mRNA durch.

2006 verliess Steve Pascolo das Start-up CureVac und kam an das Universitätsspital Zürich, wo er 2017 die Plattform «Therapeutische mRNA» gründete. Im Rahmen des europäischen Programms MERIT arbeitet er mit der deutschen BioNTech an klinischen Studien mit Brustkrebspatientinnen und -patienten. Ferner gründete er die Start-ups Miescher Pharma und spRNA, die er als CEO leitet.