Interview

«Europa kann seinen Rückstand aufholen»

Alexandre Pauchard, der neue CEO des Forschungszentrums CSEM (Centre suisse d’électronique et de microtechnique), erklärt, wie er die digitale Schwäche des alten Kontinents sieht und warum er trotzdem optimistisch für die Zukunft ist.

Bertrand Beauté

Es wurde Zeit: Zu viele Monate lang haben wir Interviews für «Swissquote Magazine» per Videokonferenz geführt, statt unsere Interviewpartner persönlich zu treffen. Diese an sich anekdotische Phase hat eine ganz grundsätzliche Frage aufgeworfen: Wie abhängig ist Europa eigentlich bei der Digitalisierung von Lösungen aus dem Ausland?

Über dieses Thema haben wir mit Alexandre Pauchard gesprochen, dem neuen CEO des Forschungsund Technologiezentrums CSEM (Centre suisse d’électronique et de microtechnique), den wir in Neuenburg treffen durften. Der frühere F&E-Chef von Bobst blickt schonungslos auf die aktuelle Verfassung der Tech-Industrie in Europa – und ist zugleich davon überzeugt, dass sie sich erholen wird.

 

Die Pandemie hat die Digitalisierung der Gesellschaft beschleunigt. Allerdings stammen die meisten digitalen Dienste von US‑Unternehmen. Wie ist es zu erklären, dass Europa keine eigenen Spitzenunternehmen wie die GAFAM-Konzerne (Google, Apple, Facebook, Amazon, Microsoft) hervorgebracht hat?

Es ist nicht so, als ob Europa eine digitale Wüste wäre. Immerhin haben wir Erfolgsmodelle wie die E-Commerce-Plattformen Zalando und Asos oder den Musikstreamingdienst Spotify. Im Bereich Business-​Software können wir sogar Weltmarktführer wie SAP, Sage oder auch Dassault Systèmes vorweisen.

Dennoch rangieren wir ganz klar weit unter dem US-Niveau. Das ist übrigens ganz logisch, weil die USA die Digitalbranche seit den Anfängen der Informatik dominieren. Die ersten Chips wurden im Silicon Valley entwickelt. Microsoft und Apple waren Pioniere im Bereich Betriebssysteme und Bürosoftware und haben später die Umstellung auf die Cloud gut gemeistert. Auch Suchmaschinen, Onlinehandel und soziale Netzwerke sind in den USA entstanden, mit Altavista (von Yahoo! aufgekauft), Google, Amazon, eBay und Facebook. Kurzum: US-Firmen waren Vorreiter in allen diesen Bereichen. Sie können sich heute zurücklehnen und die Früchte ihrer Pionierarbeit ernten.

 

«Europa bringt zahlreiche vielversprechende Start-ups hervor. Sie werden allerdings meist von grossen ausländischen Akteuren aufgekauft»

 

In Europa hat man aber ähnliche Dienste entwickelt. Warum konnten sie sich international nicht durchsetzen?

Europa bringt zahlreiche vielversprechende Start-ups hervor, die oft aus dem Forschungsbereich kommen. Die interessantesten werden allerdings meist von grossen ausländischen Akteuren aufgekauft. So wie die Firma Skype, die zwar in Europa gegründet, aber im Jahr 2011 für 8,5 Mrd. Dollar von Microsoft übernommen wurde. Das nennt man den Gravitationseffekt: Die Grossen werden immer grösser, weil sie über enorme Mittel verfügen, mit denen sie Technologien aufkaufen können, die andere entwickelt haben.

Bei digitalen Diensten profitieren US-Konzerne zudem von einem Schneeballeffekt. Die Unternehmen leben im Grunde von eingesammelten Daten. Firmen, die schon früh dabei waren, haben deswegen einen Wettbewerbsvorteil, der immer grösser wird: Je mehr Nutzer sie haben, desto mehr Daten, desto mehr Futter gibt es für ihre Algorithmen und damit für die Entwicklung neuer Dienste. Dadurch ziehen diese Unternehmen noch mehr Nutzer an, die wiederum auch noch mehr Daten generieren. Und am Ende nehmen Softwaresysteme die Nutzer praktisch in Geiselhaft: Haben diese einmal ein Ökosystem installiert, sind die Barrieren hoch, um die Umgebung zu wechseln. So werden neue Akteure ausgebremst.

Dennoch hat es China im Gegensatz zu Europa geschafft, eigene Spitzenfirmen zu etablieren...

Peking hat eine sehr interventionistische Strategie verfolgt und zum Beispiel stark auf die Great Firewall gesetzt (ein nach der Chinesischen Mauer benanntes System zur Internetzensur, das den Zugang zu bestimmten ausländischen Inhalten verwehrt, Anm. d. Red.), die den Zugang der GAFAM auf den chinesischen Markt blockiert hat. So konnten lokale Lösungen entstehen und sich die BATX (Baidu, Alibaba, Tencent und Xiaomi) dann sogar international entwickeln. Wie in anderen Bereichen auch hat China es geschafft, seine Interessen langfristig zu schützen.

Wie positioniert sich die Schweiz?

Die Schweiz ist aufgrund ihrer herausragenden Kompetenzen an der Entwicklung der US-Branchenriesen beteiligt. So haben IBM, Google, Microsoft und Oracle beispielsweise sehr grosse Forschungszentren in unserem Land. Ausserdem gibt es in der Schweiz ein ganzes Ökosystem lokaler Unternehmen, die im Softwarebereich tätig sind, wie Doodle, Nexthink, GetYourGuide, Netguardians oder Mindmaze, um nur einige zu nennen.

Was muss getan werden, damit sich solche Schweizer Unternehmen besser entwickeln können?

Besser wäre es, wenn die Schweiz Unternehmen in der Wachstumsphase (Scale-up) verstärkt Zugang zu Risikokapital ermöglichen würde. Denn auch wenn es bei der Gründung von Start-ups inzwischen deutlich leichter ist als noch vor 15 Jahren, an Risikokapital zu kommen, ist es in der Schweiz wie auch im Rest Europas nach wie vor sehr schwierig, Kapitalspritzen zwischen zehn und 100 Mio. Franken für das Wachstum der Start-ups aufzutun.

 

«Europa muss schnell reagieren»

 

Der derzeitige Chipmangel hat auch gezeigt, wie abhängig Europa im Schlüsselsektor Halbleiter ist... Welche Rolle spielt Europa in dieser Branche?

Eine zu kleine. Europa ist für etwa 10 Prozent der weltweiten Chipproduktion verantwortlich. Der Kontinent befindet sich nicht nur im Rückstand, dieser Rückstand wird auch noch von Jahr zu Jahr grösser. Die in der Massenproduktion von Chips führenden Fabriken befinden sich heute allesamt in Asien: in Taiwan, in Süd-korea, in China und in Japan. Alleine das taiwanesische Unternehmen TSMC hält 56 Prozent am Weltmarkt der Halbleiter-Auftragsfertiger, vor Samsung mit 18 Prozent. Selbst die USA kommen mittlerweile nicht mehr mit. Nach Angaben der Semiconductor Industry Association (SIA) ist ihr Marktanteil, der 1990 noch bei 27 Prozent lag, inzwischen auf 12 Prozent gesunken. Einst war das Silicon Valley die Wiege der Industrie, heute muss Washington kräftig investieren, um den Rückstand aufzuholen. So hat Joe Biden angekündigt, 50 Mrd. Dollar in die heimischen Halbleiterhersteller investieren zu wollen. Europa muss ebenfalls schnell reagieren, um diesen wichtigen Wachstumsmotor in einer immer stärker digitalisierten Welt nicht zu verlieren.

Die EU-Kommission hat Ende März ihre Investitionsbereitschaft erklärt, um die Halbleiterproduktion auf dem alten Kontinent anzukurbeln. Die Idee ist, eine Art «Airbus of Chips» zu entwickeln, um digital souverän zu werden. Ist das utopisch?

Einen «Airbus of Chips» aufzubauen, ist einfach ein Muss, weil Halbleiter für zukünftiges Wachstum sorgen. In Europa scheint man diese Notwendigkeit angesichts der neuesten Probleme mit dem Chipmangel verstanden zu haben. Dieser Engpass hat in der Tat gezeigt, wie wichtig es ist, eine lokale Produktion zu behalten, wie dies in der Schweiz zum Beispiel bei der Swatch-Tochter EM Marin der Fall ist.

Der Plan aus Brüssel will den europäischen Marktanteil an der weltweiten Halbleiterproduktion bis 2030 von derzeit 10 auf 20 Prozent steigern. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Aber Vorsicht: Erfolg ist nicht nur eine Frage von Investitionen. Das Können bei einer so neuen Technologie zeigt sich auf der Langstrecke. Man muss ein ganzes Ökosystem mit Produktionsfabriken, Zulieferern, Studiengängen und Kunden aufbauen.

Wenn den Worten in Europa Taten folgen sollten und die Bemühungen langfristig verfolgt werden, bin ich trotz allem optimistisch: Wir können den Trend umdrehen und unseren Rückstand in den nächsten zehn bis 15 Jahren aufholen.

Die EU versucht, auch Intel und TSMC zu überreden, Fabriken in Europa zu bauen. Ist es nicht widersinnig, ausländische Firmen ins Boot zu holen, wenn man seine eigene Unabhängigkeit ausbauen will?

Es ist eine pragmatische Lösung. Die Kompetenz im Halbleiterbereich liegt bei diesen Konzernen. Es ist sinnvoll, sie hierherzulocken, weil sie hoch qualifizierte Arbeitsplätze schaffen können, die Studierenden, die sich auf dieses Gebiet spezialisieren wollen, eine Perspektive geben. Um ehrlich zu sein: Ich bin nicht ganz sicher, ob es Europa ohne diese Unternehmen überhaupt schaffen kann, den Trend umzukehren. Die USA haben das übrigens längst verstanden. Sie konnten die taiwanesische TSMC im Juni 2020 überzeugen, zwölf Mrd. Dollar in den Bau einer Fabrik in Phoenix zu investieren, wo 13’000 hochwertige Arbeitsplätze entstehen werden.

Aufgabe des CSEM ist es, Innovationen aus der Forschung in die Industrie zu überführen und Unternehmen bei der Digitalisierung zu unterstützen. Aber hat Ihr Haus im digitalen Bereich nicht selbst noch viel aufzuholen?

Ganz im Gegenteil! Das CSEM ist weltweit unter anderem für seine Bluetooth-Low-Energy-Chips (BLE) bekannt, die zum Beispiel in drahtlosen Kopfhörern verbaut werden. Zahlreiche Firmen wie Fujitsu arbeiten wegen dieser Expertise mit uns zusammen. Ein anderes Beispiel: Im Bereich Machine Learning hat Cognex, der Weltmarktführer für maschinel les Sehen, 2017 das CSEM-Spin-off ViDI Systems aufgekauft. Wenn sich Konzerne wie Fujitsu oder Cognex für einen interessieren, ist das ein sehr gutes Zeichen. Das heisst, dass man Spitzentechnologie liefert. Dennoch ist die Bandbreite in der digitalen Wirtschaft natürlich gross. Das CSEM kann nicht alle Bereiche abdecken, und wir werden beispielsweise nicht damit anfangen, Apps für das iPhone zu entwickeln. Wir versuchen, uns auf unsere Stärken zu konzentrieren.

Welche sind das?

Das CSEM konzentriert sich auf drei Branchen: die Mikropräzisionsfertigung, die schon immer unser Schwerpunkt war, den Bereich erneuerbare Energien, für den wir international bekannt sind, sowie die Digitalisierung. In Letzterem sind wir besonders gut, wenn es um Miniaturisierung, Präzision und Verbrauchssenkungen geht. Diese Themen sind in bestimmten digitalen Anwendungen äusserst gefragt, zum Beispiel beim Internet der Dinge, in der Industrie 4.0 und Quantentechnologien sowie im Energiemanagement.

Welche Anwendungen hat das CSEM konkret im digitalen Bereich entwickelt?

Wir sind im digitalen Bereich sehr aktiv. Das Zürcher Unternehmen AVA, das aus dem CSEM hervorgegangen ist, hat beispielsweise zusammen mit dem CSEM ein smartes Armband entwickelt, mit dem Frauen ihren Zyklus überwachen können. Alle Daten werden per Bluetooth an das Smartphone übermittelt. Eine App zeigt dann an, wann der beste Zeitpunkt ist, schwanger zu werden. Dieses Start-up hat vor Kurzem erst von sich reden gemacht, als sich zeigte, dass das Armband auch zur Rückverfolgung von Covid-19-Infektionen eingesetzt werden kann, weil es die Infektion bei Patienten bereits zwei Tage vor dem Auftreten der ersten Symptome entdeckt.

Und die Start-ups Aktiia und Biospectal, ebenfalls aus dem medizinischen Bereich, haben Armbänder entwickelt, die den Blutdruck messen können. Im Gegensatz zu den derzeit auf dem Markt erhältlichen Tools haben all diese in Zusammenarbeit mit dem CSEM entwickelten Produkte den Vorteil, dass medizinisch geprüft sind. Das sind nicht einfach nur Gadgets, wie man sie sonst auf Smartwatches und Smartphones findet. Solche medizinischen Produkte stossen zurzeit auf enormes Interesse.

 


 

INTERNATIONALES PROFIL

Am 18. Januar 2021 übernahm Alexandre Pauchard die Leitung des CSEM als Nachfolger von Mario El-Khoury. Vor seiner Ernennung war der 50-jährige Freiburger zehn Jahre als F&E-Chef beim Schweizer Experten für Verpackungsmaschinen Bobst tätig. Der DiplomPhysiker (ETH Zürich) hat im Bereich Mikrotechnik an der EPF Lausanne promoviert. Pauchard war im Laufe seiner Karriere als technischer Leiter bei einem Start-up im Silicon Valley beschäftigt, das optische Komponenten herstellt, bei ID Quantique im Bereich Quantenkryptografie sowie bei Synova im Bereich Laserschneiden. Ausserdem arbeitete er sechs Jahre als Berater für das kalifornische Unternehmen Intel.

 


 

DAS CSEM: BRÜCKE ZWISCHEN FORSCHUNG UND INDUSTRIE

Das Centre suisse d’électronique et de microtechnique (CSEM) mit Sitzen in Basel, Zürich, Graubünden, der Zentralschweiz und in Neuenburg ging 1984 aus der Zusammenlegung von drei Einrichtungen hervor: dem Centre Electronique Horloger (CEH), dem Uhrenforschungsinstitut (LSRH) und der Schweizerischen Stiftung für mikrotechnische Forschung (FSRM). Das CSEM soll Forschung und Industrie zusammenbringen. Es hat sich neben dem Uhrenbau auf Hochtechnologiebereiche spezialisiert, wie Photovoltaik (das Institut arbeitet zum Beispiel mit Meyer Burger zusammen), Medizin, Biotechnologie, Raumfahrt, Automatisierung, Halbleiter und Mobilität. Das CSEM kann sich unter anderem rühmen, die erste Maus mit optischem Sensor entwickelt zu haben, die später von Logitech vermarktet wurde. Als gemeinnützige Aktiengesellschaft beschäftigt das Zentrum rund 540 Personen mit einem Budget von 89,2 Mio. Franken (2020). 42 Prozent der Mittel stammen aus Industrieprojekten und aus der Innosuisse-Finanzierung, der Rest wird über öffentliche Mittel und Forschungsfonds bereitgestellt. Im letzten Jahr hat das CSEM mit 225 Firmen kooperiert. Alexandre Pauchard will das Wachstum des CSEM steigern, die Digitalisierung des Zentrums vorantreiben und es in der Öffentlichkeit bekannter machen .