Dossier

Bringt «Deep Tech» die Rettung?

Europa befindet sich in einer guten Ausgangsposition, um digitale Technologien der Zukunft zu entwickeln. Aber es muss seine Start-ups besser schützen.

Bertrand Beauté

Denken Sie zurück an den Januar 2020. Damals kannte kaum jemand BioNTech. Nicht ohne Grund: Das 2008 gegründete deutsche Unternehmen hatte bis dahin noch kein einziges Produkt auf den Markt gebracht und ausserhalb der wissenschaftlichen Community kein grosses Interesse erregt. Eineinhalb Jahre später wird das Unternehmen mit Milliarden von Dollar überhäuft und erntet zusammen mit Partner Pfizer die Früchte des gigantischen Erfolgs seines Boten-RNA-Impfstoffs gegen Covid-19. In der Wirtschaft ist BioNTech der Inbegriff dessen, was heute «Deep Tech» genannt wird.

Der Begriff bezeichnet ein stark wissenschaftlich ausgerichtetes Start-up, das eine disruptive Technologie entwickelt, die zwar eine lange F&E-Phase benötigt, bevor sie auf den Markt kommt, aber letztlich unsere Gewohnheiten revolutionieren kann. So war die Boten‑RNA‑Technologie vor der Pandemie nicht mehr als eine umstrittene Idee. Heute ist sie eine Technik, die gleich mehrere Therapiebereiche völlig verändern wird (s. «Swissquote Magazine», Ausgabe 02/2021). Auch wenn es Deep‑Tech‑Unternehmen in vielen Industrien gibt (Gesundheit, Energie, Rohstoffe...), scheinen sie die grössten Verheissungen in der IT zu bieten, wo es um künstliche Intelligenz, Quantenrechner, Drohnen oder Virtual Reality geht. Experten gehen davon aus, dass die neuen Technologien zu einer dritten Revolution in der Tech-Branche führen, nach denen des Internets und der Cloud. «Wir stehen am Beginn einer neuen Ära der Innovation», prophezeit Jack Neele, Portfoliomanager bei Robeco und verantwortlich für den Global Consumer Trends Equities Fonds. Europa ist in diesen Bereichen gut aufgestellt und könnte die neue Revolution für sich nutzen, um seinen Rückstand in der Digitalisierung aufzuholen.

Denn auf dem alten Kontinent tummeln sich zahlreiche Deep‑Tech‑Unternehmen, von denen einige sogar bereits börsenkotiert sind, wie Kalray aus dem Halbleiterbereich, Darktrace in Sachen künstliche Intelligenz oder auch UiPath und Blue Prism auf dem Feld der robotergesteuerten Prozessautomatisierung.

Diese Firmen konnten nur florieren, weil die von Natur aus riskanten Deep‑Tech‑Projekte keine abschreckende Wirkung mehr auf Investoren haben. «Vor zehn Jahren war es unmöglich, in Europa eine Finanzierung für ein Unternehmen wie unseres zu finden. Das Wort Halbleiter war bei den Investoren tabu», so Éric Baissus, CEO von Kalray. «Aber seit zwei, drei Jahren denken die Menschen um.»

Mit disruptiven Innovationen kann man europäische Investoren also anlocken. Das ist die wichtigste Erkenntnis aus dem Bericht «2021: The Year of Deep Tech», den das Newsportal Sifted und die Start-up-Plattform Dealroom.co im Januar 2021 veröffentlicht haben. Der Studie zufolge haben sich die Summen, die Venture Capitalists in den letzten zehn Jahren in die europäischen Deep‑Tech‑Unternehmen investiert haben, verzehnfacht auf 9,4 Mrd. Euro im Jahr 2020. Dieser Betrag liegt zwar noch deutlich unter dem, was im gleichen Jahr in den USA in diesem Bereich eingesammelt wurde (33 Mrd. Euro), doch er übersteigt die Investitionen in China (6,1 Mrd. Euro), wenn man die öffentlichen Subventionen ausser Acht lässt.

Der Deep‑Tech‑Bericht sieht die grösste Stärke Europas in der Forschung. Denn häufig gehen Deep‑Tech‑Firmen aus Laboren hervor, wie es bei BioNTech (Universität Mainz), Darktrace (University of Cambridge) und Kalray (französische Atomenergiekommission CEA) der Fall war. Und wenn es um Technologie, Ingenieurwissenschaften oder Mathematik geht, ist Europa Spitzenreiter. Das Times Higher Education Ranking 2021 (THE) listet unter den 20 weltweit besten Universitäten für Informatik alleine sieben aus Europa auf. Und laut Dealroom.co entscheiden sich in Deutschland 35 Prozent der Studierenden für einen naturwissenschaftlichen Studiengang, in Frankreich 28 Prozent, in Grossbritannien 26 Prozent. In den USA liegt die Quote bei nur 18 Prozent.

«Vor 20 Jahren musste man ins Silicon Valley, wenn man innovativ sein wollte, weil sich das gesamte Ökosystem – die Technologie, das Geld, die Forschung – eben dort befand», so Jack Neele von Robeco. «Heute ist das nicht mehr so. Das Internet hat Innovationen dezentralisiert, und man sieht wieder, wie überall auf der Welt, und vor allem in Europa, neue digitale Dienste entstehen. Städte wie Berlin, London oder Amsterdam haben es geschafft, komplette Ökosysteme aufzubauen, in denen Gründer ideale Bedingungen für disruptive Start-ups vorfinden.»

 

«Städte wie Berlin, London oder Amsterdam haben es geschafft, komplette Ökosysteme aufzubauen, in denen Gründer ideale Bedingungen für disruptive Start-ups vorfinden»

Jack Neele, Portfoliomanager bei Robeco

 

Allerdings muss man sie auch schützen. «Zu oft werden die vielversprechendsten europäischen Unternehmen von ausländischen Akteuren aufgekauft oder ziehen von selbst in die USA um», sagt Dimitri Kallianiotis von der UBP. Die Plattform Booking.com, Weltmarktführer für Reisebuchungen, wurde 1996 in den Niederlanden gegründet und 2005 vom US-Konzern Priceline aufgekauft. Mit Skype lief es ähnlich: Die 2003 in Luxemburg entwickelte Telefonie-Software wurde 2005 erst von eBay geschluckt und dann 2011 von Microsoft übernommen. Das in Rumänien gegründete Deep‑Tech‑Start‑up UiPath hat seinen Firmensitz lieber gleich in die USA verlegt, um dort im April 2021 an die New York Stock Exchange zu gehen. In dem Bericht «The State of European Tech 2020» ist nachzulesen, dass 14 Prozent der europäischen Einhörner (nicht kotierte Unternehmen mit einer Bewertung von mehr als einer Mrd. Dollar) von US-Unternehmen und 8 Prozent von chinesischen Firmen aufgekauft werden. Solche Übernahmen schwächen die europäische Führungsstellung. Um diesen Zyklus zu durchbrechen, haben 35 europäische Einhörner wie Blablacar aus Frankreich, FacilityLive aus Italien und Cabify aus Spanien im März 2021 gefordert, einen europäischen Fonds mit 100 Mrd. Euro zur Investition in Start-ups einzurichten. Der «European Sovereign Tech Fund», der zurzeit in der Europäischen Kommission diskutiert wird, soll aus öffentlichen und privaten Geldern gespeist werden und langfristige Aktieninvestitionen ermöglichen.

Inzwischen hat die EU bereits einen ersten Fonds aufgelegt: Über den EIC Fund kann sie direkte Kapitalbeteiligungen an jungen Firmen erwerben, die an disruptiven Technologien arbeiten. Eine erste Tranche von 178 Mio. Euro, die in 42 Startups investiert werden soll, wurde Anfang des Jahres freigegeben.

Aber für Cyrille Dalmont, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Thomas-Moore-Institut arbeitet, reicht das noch lange nicht: «Europa muss seine Unternehmen schützen, so wie es China und die USA auch tun. Wenn Washington eine geplante Übernahme nicht gefällt, wird eingegriffen. So untersagte Donald Trump 2018 per Dekret die Übernahme des US-Mikroprozessorkonzerns Qualcomm durch den damals singapurischen Konkurrenten Broadcom.»

Offenbar hat Europa das auch registriert und daher mittlerweile beschlossen, sich besser zur Wehr zu setzen. Der im Dezember vorgestellte Digital Market Act (DMA), der bestenfalls in einem Jahr in Kraft treten dürfte, wird die ausländischen Digitalkonzerne verpflichten, die EU-Kommission über jede Übernahme einer europäischen Firma mit hoher Bewertung, aber niedrigem Umsatz in Kenntnis zu setzen. Ziel des Acts: Man will sich eine Handhabe verschaffen, bestimmte Akquisitionen zu stoppen.