Dossier

Der Schlaf: ein MilliardenGeschäft

In unserer zunehmend ermüdeten Gesellschaft wird ein guter Schlaf immer wichtiger. Kein Wunder, dass zahllose Technologiefirmen Apps und vernetzte Geräte auf den Markt bringen, die alle eines versprechen: unsere Nachtruhe zu verbessern.

Von Bertrand Beauté

«Das Marktpotenzial ist per Definition für uns viel grösser als das der Hersteller vernetzter Fitnessgeräte wie Peloton. Denn jeder schläft, nicht wahr?» In einem Interview mit dem amerikanischen Online-Nachrichtenportal TechCrunch zeigt Matteo Franceschetti, CEO des New Yorker Start-ups Eight Sleep, das vernetzte Matratzen entwickelt, das Potenzial des Schlafgeschäfts auf: Da Schlaf keine Freizeitbeschäftigung, sondern ein Bedürfnis ist und der Mensch durchschnittlich ein Drittel seines Lebens in Morpheus’ Armen verbringt, muss sich jeder ausstatten, um süss zu träumen. Das sind immerhin 7,6 Milliarden potenzielle Kunden!

Dennoch entwickelte sich der Schlafmarkt lange Zeit verhalten und beschränkte sich auf den alle zehn bis 15 Jahre stattfindenden Matratzenwechsel. Was ist der Grund dafür? «In einer Welt, in der Leistung und beruflicher Erfolg grossgeschrieben werden, wird der Schlaf oft vernachlässigt und als Zeitverschwendung angesehen», bemerkt José Haba-Rubio, Arzt im Zentrum für Schlafforschung (Centre d’investigation et de recherche sur le sommeil, CIRS) an der Universitätsklinik CHUV (Centre hospitalier universitaire vaudois) in Lausanne. Nach der sogenannten HypnoLaus- Studie, die dort durchgeführt wurde, schlafen die Schweizer in der Romandie durchschnittlich knapp sieben Stunden pro Nacht, das sind 1,5 Stunden weniger als noch vor 100 Jahren.

«Die meisten Menschen haben ein Schlafdefizit und leben mit dem Gefühl, ständig der Ruhe hinterherzulaufen, um es aufzuholen», betont Raphaël Heinzer, Direktor des CIRS und Mitautor des Buches «Je rêve de dormir» (Ich träume zu schlafen). Lange Zeit wurde dieses Schlafdefizit ignoriert und sogar aufgewertet – viele CEOs, wie Apple-Chef Tim Cook oder Disney-Chef Bob Iger, führen ihre kurzen Nächte gern als Erklärung für ihren Erfolg an.

 

Es gibt unzählige Apps wie Sleep Cycle, Sleep Better, Réveil Bonjour, Calm oder auch iRonfle

 

Ein Fehler. «Manchmal haben wir den Eindruck, dass wir Zeit sparen und leistungsfähiger sind, wenn wir weniger schlafen, aber das Gegenteil ist der Fall», so Raphaël Heinzer weiter. «Schlafmangel erhöht das Risiko von Krankheiten wie Adipositas, Diabetes und Bluthochdruck.» Mehrere wissenschaftliche Studien haben ergeben, dass Menschen, die weniger als fünf Stunden pro Nacht schlafen, ein doppelt so hohes Risiko haben, Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu entwickeln, und dass ihr Risiko, übergewichtig zu werden, um 50 Prozent steigt. Eine Studie, die 2015 in der Zeitschrift «Sleep» veröffentlicht wurde, hat ausserdem gezeigt, dass Menschen mit Schlafmangel viermal häufiger erkältet sind als Menschen, die ausreichend Schlaf bekommen.

Die Schlafqualität ist also alles andere als trivial, sondern ein echtes Problem für die öffentliche Gesundheit. Eine australische Studie von 2018, die nach der Veröffentlichung in der Fachzeitschrift «Sleep» für Aufsehen sorgte, hat gezeigt, dass die «weltweite Schlafmangel-Epidemie», um den Begriff der Autoren aufzugreifen, astronomische Kosten verursacht: Allein in Australien fallen durch Krankheiten, Unfälle, aber auch Produktivitätseinbussen und Fehlzeiten am Arbeitsplatz jährlich 45,21 Mrd. Dollar an. Nach Ansicht der Autoren «rechtfertigen diese Kosten erhebliche Investitio­nen in Präventivmassnahmen, um das Problem durch Aufklärung und Regulierung anzugehen».

Diese Botschaft findet offenbar in der breiten Öffentlichkeit zunehmend Gehör. Einige Regierungen haben bereits Sensibilisierungskampagnen initiiert, und Unternehmen richten Ruheräume ein. «Der Schlaf wurde jahrelang vernachlässigt, aber heute erleben wir einen Paradigmenwechsel», bemerkt Dr. Maxime Elbaz, Experte für vernetzte Objekte am Schlafzentrum des Krankenhauses Hôtel-Dieu (Centre du sommeil et de vigilance de l’hôpital Hôtel-Dieu, AP-HP) in Paris. «Die Menschen werden sich immer mehr bewusst, dass sie nicht in Form sind, wenn sie nicht gut schlafen.» Diese Beobachtung hat Dr. Katerina Espa Cervena, Direktorin des Schlafzentrums Cenas in Genf, ebenfalls gemacht: «Früher kamen die Patienten zu uns in die Sprechstunde, um uns zu fragen, wie sie ihre Schlafzeit verkürzen könnten. Jetzt kommen solche Fragen überhaupt nicht mehr. Dank der Medienberichterstattung rund um das Thema Schlafen wird die Bedeutung einer guten Nachtruhe viel besser wahrgenommen.»

Dieses Bewusstsein ist umso stärker, da die Bevölkerung in den hypervernetzten westlichen Ländern dazu neigt, immer schlechter zu schlafen. Die im Februar 2019 veröffentlichte Schweizerische Gesundheitsbefragung 2017 hat ergeben, dass nahezu 30 Prozent der Schweizer an Schlafstörungen leiden, während es 2015 nur 25 Prozent waren. Nach «besser essen» und «mehr bewegen» liegt jetzt also «gut schlafen» im Trend.

Laut einer Studie des Beratungsunternehmens Frost & Sullivan dürfte der weltweite Schlafmarkt, der sich 2019 auf 432 Mrd. Dollar belief, bis 2024 auf 585 Mrd. Dollar ansteigen. In einem Bericht zu diesem Thema schätzte die US-Bank McKinsey bereits 2017, dass es keinen Zweifel daran gebe, dass die Schlafgesundheitswirtschaft «solide Investitionsmöglichkeiten bieten wird», da «die Verbraucher aufgrund der psychischen, physischen und wirtschaftlichen Kosten des Schlafmangels zunehmend an Lösungen interessiert sind».

Das klingt verlockend für den Tech-nologiesektor, der stets auf der Suche nach vielversprechenden neuen Märkten ist. Das 2014 gegründete amerikanische Unternehmen Casper stellte zunächst die gesamte Bettenindustrie auf den Kopf, indem es dem Kauf und der Lieferung von Matratzen den Nimbus nahm: Während die Kunden diese Produkte bisher in Geschäften getestet und eingekauft hatten, ebnete Casper den Weg für den Kauf per Mausklick im Internet mit der Möglichkeit, die Matratze innerhalb von 100 Tagen kostenlos zurückzugeben.

Aber die Revolution reduziert sich nicht nur auf Vertriebskanäle. Mittlerweile sind Dutzende von Start-ups aufgetaucht, die versprechen, unsere Nachtruhe mit neuen Technologien zu verbessern. Es gibt unzählige Apps wie Sleep Cycle, Sleep Better, Réveil Bonjour, Calm oder iRonfle, die anbieten, den Schlafzyklus zu analysieren und den Anwender zur richtigen Zeit zu wecken oder zu helfen, das Schnarchen zu reduzieren.

Und im Hardware-Bereich vermarktet das nicht börsenkotierte New Yorker Start-up Eight Sleep vernetzte Matratzen, die den Schlaf überwachen und über eine spezielle App Ratschläge geben können. Das französische Start-up Moona entwickelt ein Kissen, das seine Temperatur anpasst, und der Soundriese Bose bietet Sleepbuds an, die dafür sorgen, dass man schneller einschläft. Ganz zu schweigen von Dämmerungssimulatoren, vernetzten Stirnbändern und intelligenten Uhren, die jetzt alle über eine Schlafüber­wachungsfunktion verfügen. Die Liste der Anbieter ist lang.

Diese neue, als «Sleep-Tech» bezeichnete Branche erlebt einen wahren Boom. «Der Schlaf ist zu einem Eldorado für Start-ups geworden, weil die Menschen schlecht schlafen, aber besser schlafen wollen», resümiert Dr. Maxime Elbaz, der die Schlaf-App für die Apple Watch entwickelt hat, die die Schlafdauer und das Schnarchen misst. Einem Bericht von Global Market Insights zufolge dürfte der globale Markt für Schlaftechnologie bis 2027 auf 40,6 Mrd. Dollar ansteigen (2020 waren es 12,5 Mrd.), was einem jährlichen Wachstum von 17,8 Prozent entspricht.

Diesen Kuchen wollen die Tech-Giganten nicht den ehrgeizigen Start-ups überlassen. Seit letztem Frühjahr vermarktet Google die zweite Generation des persönlichen Assistenten «Nest Hub». In dieser neuen Version bietet der Riese aus Mountain View eine neue Funktion an: die Schlafüberwachung per Radar. Jeden Morgen zeigt das Gerät dem Benutzer eine Zusammenfassung seiner Nacht an und gibt Tipps, wie er den Schlaf verbessern könnte. Google interessiert sich seit Jahren für unsere Nächte. Bereits 2019 kaufte die Suchmaschine für 2,1 Mrd. Dollar Fitbit, dessen vernetzte Armbänder zur Schlafüberwachung verwendet werden können. In diesem Bereich konkurriert Fitbit mit der Apple Watch, die auch eine Schlaffunktion hat, sowie mit den Armbändern von Samsung, Huawei und Garmin. Und die Firma mit dem Apfel-Logo übernahm 2017 das Start-up Beddit, das ebenfalls einen Schlaf-Tracker vertreibt.

 

Einige vernetzte Produkte werden allmählich wissenschaftlich validiert

 

«Derzeit setzt sich die Sleep-Tech-Branche aus zahlreichen Start-ups zusammen. Aber der Markt wird sich selbst regulieren. Einige von ihnen verschwinden wieder, andere werden aufgekauft», so Dr. Elbaz. «Am Ende werden nur noch die GAFAM (Google, Amazon, Facebook, Apple, Microsoft, Anm. d. Red.) übrigbleiben.» Aber helfen diese vernetzten Gadgets wirklich, besser zu schlafen? «Alle Technologien, die den Komfort verbessern, wie beispielsweise Betten, die die Temperatur regulieren, oder Matratzen, die die Position anpassen, sind sehr gut», sagt José Haba-­Rubio. «Und wenn jemand meint, dass er mit einem Dämmerungssimulator, einer Augenmaske oder mit Ohrstöpseln besser schläft, dann soll er das tun! Das subjektive Empfinden ist bei der Suche nach Schlaf sehr wichtig. Wenn sich jemand mit diesem oder jenem Gegenstand besser fühlt, dann ist das positiv.»

Umstrittener ist hingegen das Interesse an Trackern, die den Schlaf überwachen, wie vernetzte Uhren, Nachttischradare, Matratzen und Kissen mit Sensoren. Die erste Generation dieser Geräte, die vor etwa zehn Jahren auf den Markt kam, erfasste nur die Bewegungen der Schlafenden. «Bewegung ist jedoch kein zuverlässiger Indikator dafür, wie eine Person schläft», erklärt Raphaël Heinzer. «So bewegen sich Menschen, die an Schlaflosigkeit leiden, beispielsweise sehr wenig.»

Die neuesten Modelle hingegen sind wesentlich effektiver, da sie mehrere physiologische Kennzahlen wie Herzfrequenz und Sauerstoffsättigung in Verbindung mit künstlicher Intelligenz umfassen. Für die Investmentbank Bryan, Garnier & Co öffnen die «jüngsten Fortschritte bei der Datenerfassung die Tür zu einer Big-Data-Revolution im Bereich des Schlafs». Dieser Meinung ist auch der Experte Dr. Maxime Elbaz: «Ich bin ein grosser Verfechter der Selbstüberwachung des Schlafs über kurze Zeiträume, um eine Bestandsaufnahme zu machen. Sie kann den Menschen bewusst machen, dass sie ein gesundheitliches Problem haben, und sie dazu bewegen, einen Arzt aufzusuchen.» Philippe Koller, Gründer des Schweizer Start-ups Netsensing, kann dem nur zustimmen: «Es besteht ein echter Bedarf, die Erkennung von Schlafstörungen zu demokratisieren, denn das ist heute sehr schwierig. In der Schweiz dauert es drei bis sechs Monate, bis man einen Termin in einem Schlafzentrum bekommt, in Grossbritannien bis zu zwei Jahre! Wir müssen also einen schnellen und einfachen Weg finden, um Krankheiten wie Schlafapnoe zu erkennen.»

Um dies zu erreichen, gibt es verschiedene Ansätze. Auf der einen Seite entwickeln Start-ups wie Netsensing in der Schweiz und Dream in Frankreich medizinisch validierte Lösungen. «Wir haben unser Gerät mit denen verglichen, die in Krankenhäusern verwendet werden», fährt Philippe Koller fort. «Und die Ergebnisse zeigen, dass unsere Detektoren genauso gut sind. Wir werden daher 2022 eine klinische Studie starten, um sie wissenschaftlich zu validieren.» Auf der anderen Seite versprechen die im Handel erhältlichen Schlaftracker zwar viel, aber meist fehlen die Beweise. «Technologieunternehmen neigen dazu, ihre Produkte im B2C-Bereich zu vermarkten und anschliessend klinische Studien durchzuführen», sagt Dr. Maxime Elbaz und muss dabei schmunzeln. «Einige vernetzte Verbraucherobjekte werden somit allmählich wissenschaftlich validiert. Fitbit zum Beispiel hat Studien vorgelegt, die die Wirksamkeit seiner Armbänder belegen, ebenso wie das finnische Unternehmen Oura. Apple hingegen macht viel Marketing, hat aber nichts veröffentlicht, ebenso wie Samsung.» Da sich diese Technologien jedoch immer mehr durchsetzen, füllen sich die Arztpraxen mit Patienten, die sich aufgrund der Ergebnisse ihrer Schlaf-Apps Sorgen machen. «Wir haben immer mehr Patienten, die zu uns kommen, weil ihre vernetzte Uhr oder eine App ihnen sagen, dass sie schlecht schlafen», berichtet die Ärztin Katerina Espa Cervena. Das Problem ist, dass die Zuverlässigkeit der fraglichen Geräte ungewiss ist.

Daher rät Raphaël Heinzer Menschen, die sich wohlfühlen, von solchen Trackern ab: «Welchen Sinn hat es, dass eine Person, die gut schläft und sich tagsüber nicht schläfrig fühlt, ihren Schlaf aufzeichnet?», fragt der Leiter des CIRS am CHUV Lausanne. Und gibt selbst die Antwort: «Keinen. Die Verwendung dieser Geräte könnte sich sogar als schädlich erweisen, wenn sich die Nutzer auf der Suche nach der perfekten Nacht so sehr auf ihren Schlaf konzentrieren, dass er schliesslich gestört ist. Dieser Zustand wird als Orthosomnie bezeichnet.»

Der Name dieser Krankheit wurde 2017 geprägt, zeitgleich mit der Demokratisierung der vernetzten Schlaftracker. In einer Studie, die im «Journal of Clinical Sleep Medicine» veröffentlicht wurde, erklärten die Forscher, die den Begriff aufbrachten, dass sie das Wort Orthosomnie wegen seiner Ähnlichkeit mit Orthorexie, dem zwanghaften Streben nach gesunder Ernährung, gewählt haben.

Aufgrund der aufgezeichneten Daten sind Orthosomniker von ihrem Schlaf besessen. Sie messen ihm übermässige Bedeutung zu und wollen um jeden Preis gut schlafen, um ihre Tage zu optimieren. Und das Ergebnis? Sie können nicht mehr schlafen! «Die neuen Technologien zur Messung des Schlafs können interessant sein», meint Dr. Espa Cervena. «Aber das Entscheidende ist nicht das Gerät, sondern wie man es benutzt.»

 


 

DIE WICHTIGSTEN STÖRUNGEN

SCHLAFLOSIGKEIT
Schlaflosigkeit bedeutet, dass man Schwierigkeiten beim Einschlafen hat, nachts aufwacht, ohne es zu schaffen, in Morpheus’ Arme zurückzukehren, und/oder morgens zu früh aufwacht. Sie ist die häufigste Schlafstörung. Studien zufolge sind 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung davon betroffen, und 9 Prozent leiden an einer schweren Form. Sie tritt häufiger bei Frauen auf und nimmt mit dem Alter zu.

OBSTRUKTIVE SCHLAFAPNOE
Das Schlafapnoe-Syndrom ist durch eine Folge von nächtlichen Atempausen gekennzeichnet. Der Schlaf wird fragmentiert, weil jede Apnoe ein Mikroerwachen verursacht, dessen sich der Patient nicht unbedingt bewusst ist. Im Alter von über 40 Jahren leiden 50 Prozent der Männer und 25 Prozent der Frauen an Schlafapnoe.

RESTLESS-LEGS-SYNDROM (RLS)
Das Syndrom der ruhelosen Beine (RLS) ist eine chronische Erkrankung, die hauptsächlich nachts auftritt. Sie ist gekennzeichnet durch ein dringendes, unwiderstehliches Bedürfnis, die Beine zu bewegen, verbunden mit unangenehmen Empfindungen in den unteren Gliedmassen.

HYPERSOMNIE
Trotz eines kontinuierlichen und sehr langen Nachtschlafs sind Menschen mit Hypersomnie ständig müde und klagen über starke Tagesmüdigkeit. Sie haben oft das Bedürfnis, Siesta zu halten, aus der sie dann nur schwer wieder aufwachen.

PARASOMNIE
Unter Parasomnie, auch bekannt als Somnambulismus, versteht man das Gehen, Sprechen oder eine andere Form von komplexen Verhaltensweisen im Schlaf. Diese Pathologie kann für die Partner sehr problematisch sein, insbesondere wenn unbewusst sexuelle Beziehungen angestrebt werden. Schlafmangel, schlechte Schlafhygiene oder der Konsum von Stimulanzien (Koffein, Alkohol) sind alles Faktoren, die zu solchen Episoden führen können.