Outlook 2022

Der grosse Nervenkitzel

In den letzten Monaten sind die Finanzmärkte von Rekord zu Rekord geeilt. Wird sich dieser Börsenmarathon auch 2022 fortsetzen? Analysten sind hier mehr als je zuvor geteilter Meinung.

Von Bertrand Beauté

Sofern es im Dezember nicht noch zu einer Katastrophe kommt, wird 2021 als aussergewöhnliches Börsenjahr in die Annalen eingehen. Seit dem 1. Januar hat beispielsweise der Swiss Market Index SMI (Schweizer Index der Spitzenwerte) um mehr als 15 Prozent (Stand: 26. November) zugelegt, der amerikanische S&P 500 und der CAC 40 (Leitindex der Pariser Börse) um jeweils 25 Prozent. Durch diese erstklassige Performance konnten die westlichen Märkte die Kursverluste aus dem wegen der Pandemie besonders turbulenten Jahr 2020 wieder wettmachen und sogar ihre eigenen Rekorde übertreffen. So erreichte der SMI am 16. November mit mehr als 12’573 Punkten seinen historischen Höchststand in einer Sitzung.

Und nun? Kann dieser Hausse-Zyklus anhalten? Für Eleanor Taylor Jolidon, Co-Head of Swiss & Global Equities bei der Union Bancaire Privée (UBP), lautet die Antwort «Ja»: «Ich bin in Bezug auf 2022 optimistisch», bekräftigt die Spezialistin. «Die Wirtschaft hat in den letzten Monaten ihre gute Erholung mit einem starken Wachstum seit Juli bekräf tigt. Dieses Wachstum dürfte 2022 anhalten, was sich positiv auf die Märkte auswirken würde.»

Goldman Sachs teilt diese Ansicht. In einem im November veröffentlichten Statement erklärt die US‑Bank, sie erwarte ein erneut solides Jahr, in dem der S&P 500 auf 5’100 Punkte klettern könnte. Im Vergleich zu dem aktuellen Stand von 4’700 Punkten entspräche das einem Anstieg von 9 Prozent. «Der Bullenmarkt wird sich fortsetzen», fasste David Kostin, Strategiechef für amerikanische Aktien bei Goldman Sachs, in einem Interview mit der Plattform Yahoo! Finance zusammen.

Von Morgan Stanley sind allerdings ganz andere Töne zu vernehmen. In einer im November veröffentlichten Mitteilung geht die US‑Bank 2022 von 4’400 Punkten beim S&P 500 aus. Im Verhältnis zum heutigen Niveau wäre das ein Rückgang von 6 Prozent. Wie lassen sich derart unterschiedliche Einschätzungen erklären? Für die Optimisten jedenfalls wird das neuerliche Wachstum der Weltwirtschaft die Aktienkurse weiterhin beflügeln.

«Durch die Unterstützung der Zentralbanken, die staatlichen Investitionspläne, die Steuererleichterungen und die Zuversicht in den Unternehmen stehen der Wirtschaft erfreuliche Tage bevor», prognostiziert Eleanor Taylor Jolidon. «Nach der Zwangspause aufgrund der Pandemie ist die Wirtschaft 2021 in einem Blitzstart wieder angelaufen. Dieses Wachstum wird sich 2022 fortsetzen, auch wenn es vielleicht verhaltener als 2021 verläuft. Dieser Zyklus wird umso nachhaltiger sein, weil Unternehmen zur Erfüllung der neuen Umweltanforderungen massiv investieren müssen. Die aktuelle Wachstumsphase wird daher länger als bei üblichen Konjunkturzyklen sein.»

Der Internationale Währungsfonds (IWF) rechnet von daher für 2022 mit einem globalen Wachstum von 4,9 Prozent gegenüber 5,9 Prozent im Jahr 2021. «Bei den Unternehmen herrscht Konsens, dass dies zu Gewinnzuwächsen in der Grössenordnung von 9 Prozent in Industrieländern bzw. 12 Prozent bei Schweizer

 

«Der Bullenmarkt wird sich fortsetzen»

David Kostin, Strategiechef für amerikanische Aktien bei Goldman Sachs

 

Firmen führen wird», erläutert Eleanor Taylor Jolidon. «Ich persönlich meine, dass die Gewinne von Schweizer Unternehmen sogar um 15 Prozent steigen könnten.»

Allerdings trüben seit diesem Herbst einige Wolken die sonnigen Aus- sichten, was das Misstrauen der Pessimisten weiter schürt. «Wenn sich das erwartete Wachstum einstellt, ist der Aktienmarkt gar nicht so teuer und könnte Anlegern 2022 noch 8 bis 10 Prozent an Rendite bescheren», verrät Hubert Lemoine, Chief Investment Officer bei Schelcher Prince Gestion. «Aber fast überall gehen die Warnleuchten an. Von daher werden diese Wachstumsversprechen vielleicht nicht eingehalten. Das sorgt für Ungewissheit an den Märkten.» Diese Ansicht teilt auch Nicolas Simar, Senior Portfolio Manager Euro & European High Dividend bei NN Investment Partners: «Ich bin hinsichtlich des Hausse-Potenzials der Aktienmärkte vorsichtiger als vor einem Jahr. Anfang 2021 begann für die Wirtschaft der Ausweg aus der Krise, wodurch sich Chancen eröffnet haben. Heute ist der Markt extrem teuer, und es gibt Anzeichen für eine mögliche Korrektur.»

Höhenflug der Energiepreise

Zunächst ist da der Höhenflug der Energie- und Rohstoffpreise, der die Inflation schlagartig angefacht hat. So sind die Konsumpreise im Jahresvergleich im Oktober in den USA um 5,4 Prozent, in Grossbritannien um 3,1 Prozent und in der Eurozone um 4,1 Prozent gestiegen. «Dieser Inflationsdruck wird 2022 anhalten», warnt Nicolas Simar. «Nur Unternehmen, denen eine Preisanhebung für ihre Produkte gelingt, werden ihre Margen halten können.» Dieser Ansicht ist auch Hubert Lemoine: «In der gegenwärtigen Phase stellt die Inflation ein Risiko dar. Sie könnte das Wachstum und den Konsum belasten.»

Die Zentralbanken in Industrieländern nehmen die Bedrohung ernst und haben, unkoordiniert, eine allmähliche Normalisierung ihrer Geldpolitik eingeleitet. Der Kurswechsel erfolgt mit allen möglichen Vorsichtsmassnahmen, um die Märkte nicht zu verschrecken und die seit 2020 am geldpolitischen Tropf hängende Wirtschaft nicht zu schwächen. «Die Zentralbanken werden ihre Hilfe wahrscheinlich verringern. Aber das wird ganz sanft und allmählich erfolgen», bestätigt Eleanor Taylor Jolidon von der UBP. «Darüber hinaus werden die europäischen und amerikanischen Konjunkturpakete die Wirtschaft 2022 weiter stützen.»

So hat nach Norwegen, Neuseeland, Australien, Kanada und Polen auch die amerikanische Notenbank (Fed) damit begonnen, ihre Anleihenkäufe ab November zu drosseln. Von derzeit 120 Mrd. Dollar pro Monat werden sie jeden Monat um 15 Mrd. bis auf null reduziert. Bei diesem Tempo wird die Fed Mitte Juni 2022 sämtliche Anleihenkäufe einstellen. Aber sie erklärt sich zu Anpassungen bereit, «wenn dies durch die Entwicklung der Wirtschaftsaussichten gerechtfertigt ist». Oder anders ausgedrückt: Wenn die Inflation zu hoch bleibt, werden die Anleihenkäufe schneller vermindert.

«Bislang vertrauen die Märkte den Verlautbarungen der Zentralbanken, die in der Inflation ein vorübergehendes Phänomen aufgrund temporärer Faktoren wie dem Anstieg der Energiepreise, der Wiedereröffnung der Wirtschaft und dem Mangel bei bestimmten Komponenten wie Halbleitern sehen», so Nicolas Simar. «Doch die Normalisierung der Geldpolitik im Jahr 2022 könnte wie ein Katalysator für eine Trendwende an den Märkten wirken. Anleger müssen in dem Moment, in dem sich der Geldhahn schliesst, auf der Hut sein.»

 

«Ich bin vorsichtiger als noch vor einem Jahr»

Nicolas Simar, Senior Portfolio Manager für Euro & European High Dividend bei NN Investment Partners

 

Die Europäische Zentralbank (EZB) will sich daher Zeit lassen: «Wir erwarten, dass sich der Inflationsdruck legt. Es hat keinen Sinn, mit einer Straffung der Geldpolitik zu reagieren», erklärte EZB-Chefin Christine Lagarde Mitte November. Es sei wichtig, dass die Wirtschaft weiterhin durch die Geldpolitik, auch durch Anleihenkäufe, unterstützt werde. «Europa ist nach wie vor ein guter Markt», betont Nicolas Simar. «Europa ist in meinen Augen weniger anfällig als die USA und verfügt über ein interessantes Wachstum sowie eine lockerere Geldpolitik.»

Ein weiteres Anzeichen für Besorgnis: Chinas Wachstum geht die Luft aus, verursacht durch die Stromknappheit und die Immobilienkrise infolge der Probleme beim Immobilienkonzern Evergrande. «Die chinesische Zentralbank hat ihre Wachstumsprognosen für 2022 nach unten revidiert», so Hubert Lemoine. «An Chinas Märkten ist die Verlangsamung 2015 zeitlich vor den westlichen Ländern eingetreten. Ein Teil der Ökonomen befürchtet daher, dass die Abschwächung in China das globale Wachstum belastet und auf andere Märkte übergreift.» Zudem zeigt die in Europa wieder aufgeflammte Epidemie, dass sich die Corona-Lage noch nicht stabilisiert hat. Niemand weiss, wie die Märkte im Falle eines erneuten allgemeinen Lockdowns reagieren.

Ansturm auf Technologiewerte

Welche Aktien sollte man angesichts dieser Ungewissheiten bevorzugen? Auch hier sind die Analysten gespal- ten. Nach Einschätzung von Daniel Ives, Analyst bei Wedbush Securities, «ist 2022 erneut mit einem robusten Jahr für Technologiewerte zu rechnen. Neues Jahr, aber gleiches Portfolio.» Mit anderen Worten: Nach wie vor werden US-Technologiekonzerne wie Facebook (Meta), Amazon, Apple, Netflix, Alphabet (Google), Microsoft und Konsorten die grossen Gewinner sein. Aber die Bewertungen, die diese Werte inzwischen erreicht haben, schrecken verschiedene Analysten ab: «Gekauft werden die Titel, die sich am besten entwickeln, was ihre Kapitalisierung und ihre Anziehungskraft bis hin zum Exzess erhöht», erklärt Nicolas Simar. «Alle Welt investiert heute in US-Technologiewerte. Diese Aktien werden auf Rekordniveau mit sehr hohen Kennzahlen (Kurs-Gewinn-Verhältnis) gehandelt. Die Frage lautet also nicht, ob sich dieser Trend umkehrt, sondern wann.» Der Finanzexperte empfiehlt, sich von diesem Sektor zu verabschieden und stattdessen Industrien zu bevorzugen, die wie etwa die Luxusgüterbranche steigende Rohstoffpreise auf die Verbraucher abwälzen können. Interessant seien auch europäische Erdölgesellschaften, die kurzfristig von höheren Ölpreisen profitieren, um in erneuerbare Energien zu investieren.

Zum Schutz vor Risiken empfiehlt Eleanor Taylor Jolidon, auf wachstumsstarke Unternehmen zu setzen. «Firmen mit nachhaltigem Wachstum, die Wert schaffen – berechnet durch eine liquide Rendite auf ihre Investitionen, die höher ist als ihre Kapitalkosten –, neigen dazu, den Markt langfristig zu übertreffen.» In diesem Spiel können sich Schweizer Firmen gut behaupten. «Unternehmen aus den USA und der Schweiz erreichen weltweit die höchste Wertschöpfung», so Eleanor Taylor Jolidon weiter. Die Folgen: Der Schweizer Markt korrigiert in der Baisse oft moderater als weniger wertschöpfende Märkte, während er in der Hausse an der Wertsteigerung teilhat. Wenn der SMI 2021 (Stand: 26. November) nur um 15 Prozent gestiegen ist, während der CAC 40 ein Plus von 30 Prozent verzeichnete, liegt dies auch daran, dass sich der Schweizer Börsenindex in der Pandemie besser geschlagen hat. Im Jahr 2020 wies der SMI einen leichten Zuwachs von 0,05% Prozent aus, während der CAC 40 das Jahr mit einem Rückgang von 7 Prozent beendete.

Infographie - Dossier - Issue 72